23.08.2009

Wandertourismus 2010

Trends und Chancen auf dem Wandermarkt

Von Michael Hahl


1.1 Wandertourismus auf neuen Wegen

In den 1990er Jahren begann eine Marburger Forschergruppe um Dr. Rainer Brämer die Freizeitaktivität Wandern und die Bedürfnisse des modernen Wanderers unter sozialwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen. Aus repräsentativen Befragungen, die jährlich unter dem Titel „Profilstudien Wandern“ ausgewertet wurden, konnten Qualitätskriterien für eine zeitgemäße Wanderinfrastruktur entwickelt werden. Die Marburger Forscher waren damit maßgebliche Pioniere dieses vor allem für die Tourismuswirtschaft bedeutenden Aufgabenfeldes; ihre Tätigkeit mündete in die Gründung des Deutschen Wanderinstituts, das bis heute für die mit dem Wandersiegel zertifizierten „Premiumwege“ verantwortlich zeichnet.

„Im Mittelpunkt einer Wanderung steht heute nicht mehr das Zurücklegen möglichst großer Strecken oder die Erweiterung des Bildungshorizontes, sondern das individuelle, möglichst singuläre Erlebnis. (...) Daher muss sich das Erlebnis gewissermaßen von allein entlang des Wanderweges entfalten. Für die Wanderwegeplaner und -betreuer heißt das, potenzielle Erlebniskonfigurationen bereits gezielt vorwegzunehmen und zu optimieren sowie das Wanderleitsystem so narrensicher zu gestalten, dass der Wandergast nicht vom eigenständigen Entdecken der Erlebniselemente abgelenkt wird. (...) Die Inszenierung besteht darin, vorhandene Landschaftssegmente zu optimalen Touren zusammenzufügen. (...) Schöne Landschaften sind Landschaften, in denen es uns instinktiv gut geht, weil wir uns dort als Naturwesen sicher fühlen. Sobald wir in die Natur hinausgehen, werden auch beim Hightechbürger die alten Instinkte wieder lebendig.“
Quelle: Dr. Rainer Brämer, http://wanderforschung.de/

Die neuen Perspektiven flossen auch in eine ausführliche Studie unter dem Titel „Qualitätsoffensive Wandern“ ein, die vom Deutschen Wanderverband in Kooperation mit dem Deutschen Tourismusverband im Jahr 2003 herausgegeben wurde. Auf der empirischen Grundlage der Marburger Forscher wurden Gütekriterien für Wanderwege, wanderfreundliche Gastgeber und Wanderprospekte zusammengetragen. Wolfgang Clement, der damalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, weist im Vorwort auf das ökonomische Wertschöpfungspotenzial des Wandertourismus insbesondere für die deutschen Mittelgebirge hin. „Zur Stärkung dieses Marktsegments“, so Clement, „bedarf es einer konsequenten Qualitätsverbesserung des wandertouristischen Angebotes, um den Ansprüchen der heutigen „Wanderklientel“ gerecht zu werden“ (vgl. Studie „Qualitätsoffensive Wandern“, Langfassung, S.1).

Der Praxisleitfaden der „Qualitätsoffensive Wandern“ war eine weitere wichtige Wegmarke zur Güteentwicklung im deutschen Wandertourismus, die beim Wanderverband mit dem Projekt „Wanderbares Deutschland“ unter der Leitung von Erik Neumeyer untermauert wurde. – Vergleichbar mit den „Premiumwegen“, wenn auch nicht ganz so strengen Bewertungskriterien unterworfen, verläuft die überwiegende Strecke der „Qualitätswege“ des Deutschen Wanderverbands auf Naturboden und schmalen Pfaden, die Wegeattraktivität wird bestimmt von Naturschönheiten, landschaftlicher Abwechslung, Fernblicken, Sehenswürdigkeiten und kulturellen Besonderheiten, und perfekte Markierung und Ausschilderung gehören zur Grundausstattung.

„Qualitätsweg Wanderbares Deutschland - Gütesiegel für Wanderwege
Wandern liegt im Trend. (...) Doch wie steht es mit der Qualität beim Wandern? Entspricht das Angebot den gestiegenen Ansprüchen der attraktiven Wanderklientel? Das Gütesiegel „Qualitätsweg Wanderbares Deutschland“ legt deutschlandweite Standards für Wanderwege fest und bringt dreifachen Nutzen für den Wandertourismus:
1. Die Qualität der Wegeinfrastruktur wird in den Regionen thematisiert und nachhaltig verbessert. Es entsteht regionale Wanderkompetenz.
2. Der Wandergast bekommt eine Orientierungs- und Entscheidungshilfe für seine Reiseentscheidung.
3. Die Wanderdestinationen können das Qualitätszeichen als Wettbewerbsvorteil in der Vermarktung des wandertouristischen Angebotes nutzen und sich als Qualitätsmarke profilieren.“

Quelle: http://www.wanderbares-deutschland.de/pdf/Flyer_Qualitaetsweg.pdf

Mit der neuen Wanderforschung waren die Zeichen der Zeit klar: Das „Wandern“ war längst aus dem „Kniebundhosen-Image“ herausgewachsen, hatte neue, für den Tourismusmarkt wichtige Zielgruppen erreicht, neue Trends geprägt und benötigte dringend eine umfassende Qualitätsentwicklung auf vielen Ebenen. Seither ist viel geschehen; heute werben schon zahlreiche Mittelgebirgsregionen mit ihren zertifizierten Mehrtages- oder Tagesstrecken, ausgewiesen entweder als „Premiumwege“ vom Deutschen Wanderinstitut oder als „Qualitätswege“ vom Deutschen Wanderverband. Die Zertifikate haben die wichtige Aufgabe, dem Wandergast Qualitätsgarantien zu signalisieren.

Der Wandergast sucht „nach möglichst harten wandertouristischen Qualitätsindizien. Hier liegt die entscheidende Chance für den Inlandstourismus: Er muss dem Gast die Sicherheit vermitteln, in besten Händen zu sein. Und das kann er durch nichts überzeugender als durch handfeste Qualitätsgarantien. Sie sind das entscheidende Kontaktelement zwischen Touristikern und ihren Kunden, die sich ansonsten kaum begegnen.“
Dr. Rainer Brämer, Quelle: http://wanderforschung.de/files/wandeu02kz1236017693.pdf

Weitere Informationen zum Thema (zuletzt abgerufen im April 2009):
http://www.wanderverband.de/
http://www.wanderbares-deutschland.de//
http://www.wanderinstitut.de/


1.2 Wanderfreundliche Gastgeber und Unterkünfte

Zu hochwertigen Wandererlebnissen gehören auch wanderfreundliche Einkehrmöglichkeiten und Unterkünfte, die den gewachsenen Ansprüchen der Wanderer mit einem erhöhten und gesicherten Qualitätsniveau begegnen. Um dem Wanderer Orientierungslinien zu ermöglichen, wurde vom Deutschen Wanderverband ein spezieller Zertifizierungsprozess mit dem Gütesiegel „Qualitätsgastgeber Wanderbares Deutschland“ entwickelt.

„Unter dem Motto “Wanderer herzlich willkommen” möchten wir Ihnen wanderfreundliche Unterkünfte vorstellen. Denn Wandern heißt nicht nur sich in der Natur erholen, sondern auch genießen. Dabei spielen die Unterkunft, die Herzlichkeit der Gastgeber, Serviceleistungen und gute Tipps, die der Wanderer vor Ort erhält, eine große Rolle. (...) Gäste werden auch nur für eine Nacht aufgenommen, auf Wunsch wird das Gepäck zur nächsten Unterkunft transportiert. Ortskundige Mitarbeiter informieren über interessante Touren in der Region, manchmal bietet der Chef auch persönlich eine Wanderung an. Hol- und Bringdienste zum Ausgangpunkt Ihrer Wanderung sind ebenso selbstverständlich wie ein Lunchpaket für den langen Wandertag. Damit Sie hierauf vertrauen können, hat der Wanderverband Qualitätskriterien entworfen, denen die Unterkünfte sich verschrieben haben.“
Quelle: http://www.wanderverband.de/html/unterkunfte.html

„Der Deutsche Wanderverband unterstützt die Orientierung an den Bedürfnissen der Wandergäste seit Jahren und bietet nun als Träger der Marke „Qualitätsgastgeber Wanderbares Deutschland“ das einzige bundesweite und geprüfte Qualitätssiegel für besonders wanderfreundliche Gastronomiebetriebe an. Die Umsetzung erfolgt in Kooperation mit den Landesmarketingorganisationen und regionalen Tourismusorganisationen. Zusammen mit den Partnern vor Ort werden die geforderten Kriterien in den Gastronomiebetrieben Punkt für Punkt kontrolliert.“
Quelle: http://www.wanderbares-deutschland.de/Qualitätsgastgeber


1.3 Genuss und Gesundheit - Individualität und „Selfness“

Immer mehr zeichnet sich ab, dass Wanderer auch die genießerischen und zunehmend die gesundheitlichen Facetten ihres Freizeitstils schätzen und forcieren.

„Das Genusswandern hat enorm zugenommen. Erst die Natur genießen, hinterher gut essen gehen. (...) Ganz wichtig ist das Motiv Gesundheit, was bei den Jüngeren eher Stressentlastung heißt, während die Älteren direkt an den Kreislauf oder die körperliche Fitness denken.“
Quelle: Dr. Rainer Brämer, 2006, http://www.wanderforschung.de/

Diese Präferenzen schaffen großartige Chancen für den Mittelgebirgstourismus mit vielen gesunden heimischen Genießerprodukten. Eine Region, welche die Wandererklientel auch mit entsprechenden Gastgeberangeboten an sich binden kann, stärkt das Wertschöpfungspotenzial für Land und Leute: Da gesunde regionale Produkte unter Wanderern begehrt sind, dient der tourismuswirtschaftliche Nutzen somit auch den heimischen Landwirten und der Kulturlandschaftspflege.

Darüber hinaus werden Wanderer immer individualistischer, wie die „Profilstudie Wandern“ 2008 deutlich macht. Das stellt nicht nur die Wandervereine vor Probleme, weil ausgeprägte Individualität und Vereinsbindung kaum mehr zusammen kommen. Aber auch die Touristiker stehen damit vor Herausforderungen: Mit den üblichen Pauschalen erreicht man den eingefleischten Individualisten kaum; die Herausforderung dürfte darin bestehen, das Wandertourismusangebot mit der Atmosphäre des Individuellen zu gestalten.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx prognostiziert die „Suche nach dem Ich“ als Megatrend: Der neue Lebensstil „Selfness“ wird nach Meinung seines Zukunftsinstituts die eher passive Genießervariante „Wellness“ zunehmend ersetzen. Selfness zielt auf die aktive Stärkung mentaler Fitness, und auch durch die unmittelbare Natur- und Landschaftserfahrung wird die Sicht ins eigene Innenleben klarer. Wenn Selfness zunehmend den Lifestyle des modernen Wanderers prägt, müssen sich wandertouristische Planung, Qualitätsentwicklung und Marketing mit passender Imagekommunikation und entsprechenden Angeboten darauf einstellen.


1.4 Die Wanderforschung geht weiter

Da Wandertrends nicht starr sind, sondern sich weiterentwickeln, muss auch die Qualitätsentwicklung im Wandertourismus aktuell und lebendig bleiben. Unter dem Arbeitstitel „Freizeit- und Urlaubsmarkt Wandern“ wird im Zeitraum 2009/2010 eine umfassende, deutschlandweite Marktanalyse durchgeführt. Der Deutsche Wanderverband beauftragte das Europäische Tourismusinstitut (ETI) mit dem Tourismusgeografen Prof. Heinz-Dieter Quack als Geschäftsführer, die vom Bundesministerium für Wirtschaft geförderte Studie umzusetzen, um noch mehr Klarheit über die Bedürfnisse der Wanderer zu erhalten, noch gezieltere wandertouristische Angebote zu ermöglichen. Erste Ergebnisse werden zur ITB in Berlin im März 2010 erwartet, bis zum 30. Juni 2010 soll die Studie abgeschlossen sein.

Informationen zur Grundlagenstudie (zuletzt abgerufen im April 2009): http://www.wanderverband.de/PM_1_Start_Grundlagenstudie_6_1_09.pdf
http://www.eti.de/cgi-bin/cms

Auch Dr. Rainer Brämer und die „Forschungsgruppe Wandern und Natur“ des Deutschen Wanderinstituts forschen weiter. Seit 1998 wurden in den „Profilstudien Wandern“ immerhin 18.000 Wanderer in ganz Deutschland befragt; ein immenser Wissenspool ist dabei entstanden, der mit jeder weiteren Befragung ergänzt und brandaktuell für den Wandertourismus umgesetzt werden kann. Seit 2008 ist Brämers Wanderkompetenz auch im Internetportal zugänglich: http://www.wanderforschung.de/


1.5 Wandermarkt heute: Marketing, Inszenierung, Ranking

Mehr noch als in den 1990ern kommt es heute darauf an, was die jeweilige Wanderregion aus „ihrem“ zertifizierten Wanderweg macht: Nicht allein die „Hardware“ der Wanderinfrastruktur – Wegeverlauf, Wegegüte, Gastgeberqualitäten usw. – ist von wandertouristischer Bedeutung; die Marken- und Imagebildung der „neuen Wege“ ist in den letzten Jahren zunehmend wichtig geworden.

Dazu gehören populäre Wanderbücher und Interviews oder Weblogs mit populären Vermittlern der Wanderkultur (Manuel Andrack u.v.m.), aber auch Marketingkooperationen („TopTrails of Germany“, „Best of Wandern“) sowie Rankings („Wahl der Wanderziele Deutschland“, „Deutschlands schönster Wanderweg“).

Beim Wanderziel des Jahres „ist so offenkundig manipuliert worden, dass den Wahlsiegern die Entgegennahme der "Auszeichnungen" nur peinlich sein kann. Fast mehr noch erstaunt die Skrupellosigkeit, mit der Touristiker und Wanderer um eines Marketinggags willen für dumm verkauft wurden. Schaden nehmen indes auch alle diejenigen, die sich ernsthaft um die Qualität ihrer Wanderangebote bemühen und durch derartige rein kommerzträchtige Schaumschlägereien an die Wand gespielt werden.“
Quelle: Dr. Rainer Brämer http://www.wanderforschung.de/

Auch wenn Rankings grundsätzlich legitime Mittel der Imagekommunikation sind, so sollte doch klar sein, dass manche Formen dieses Wettbewerbs keine objektiven Qualitätsauszeichnungen darstellen, sondern eben schlichtweg Marketinginstrumente sind, um gezielt die Popularität bestimmter Wanderdestinationen zu steigern.

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(Auszug aus einer wandertouristischen Projektskizze des
Projektbüros Michael Hahl - proreg, April 2009)