01.04.2009

Landschaftsporträt Neckartal

Wanderbare Annäherung zwischen
Gehgenuss und Geographie

Von Michael Hahl

Von Eichendorff zur Informationsgesellschaft
Eine Wanderung ist mehr als Bewegung in der Landschaft: Wandern ist intensive Wahrnehmung. Der durchstreifte Raum, der mehr ist als nur Erlebniskulisse, hat sein Eigenleben. Im individuellen Schrittmaß offenbart er uns sein ihm innewohnendes Wesen. So wird eine mehrtägige Wanderung durchs Neckartal zu einer landschaftskundlichen Annäherung.

Mein Weg beginnt an der westlichen Umgrenzung des Naturparks Neckartal-Odenwald: in Heidelberg, der „Hauptstadt der Romantik“. Startpunkt Alte Brücke. Goethe zeigte sie sich einst „in einer Schönheit, wie vielleicht keine Brücke der Welt. Durch die Bogen sieht man den Neckar nach den flachen Rheingegenden fließen“. Westblick! Ich gelange flussaufwärts über den alten Treidelpfad bis zum Naturschutzgebiet Russenstein und steige bergauf durch bizarre Granitfelsen der „Neuenheimer Schweiz“. Ostblick! Auf halber Höhe öffnet sich mir eine grandiose Aussicht ins Neckartal, die mich an ein Landschaftsgemälde von Ernst Fries aus der Zeit der Heidelberger Romantiker erinnert.

Erstaunlicherweise entdeckt man in den alten romantischen Malereien und Eichendorff´schen Zauberworten etwas von dem, was heute wieder Bedeutung erhält: Die äußere Landschaft wird zum Gleichnis für die innere! Sinnliches Naturerlebnis und Selbsterfahrung liegen nah beieinander. Und doch erweitert die Perspektive des 21. Jahrhunderts jene der Romantik: Wir sind Kinder der Informationsgesellschaft. Auch das Verstehen-Wollen komplexer Zusammenhänge zählt, die Kenntnis von Erdgeschichte, Natur und Kultur, das ökologische Bewusstsein. Wir wollen das Wesen der Biosphäre erkennen, meinte der Philosoph Jirí Cejpek. Wir brauchen neue zukunftsfähige Mensch-Umwelt-Beziehungen. Und irgendwo zwischen Gehgenuss und Geographie schleichen sich solche in unsere Wahrnehmung.










Frühe Besiedlung und unromantische Ritterburgen
An der Abtei Neuburg vorbei geht es weiter bis Neckargemünd, wo die aus dem Kraichgau kommende Elsenz den Neckar erreicht. Sie hat sich ein Tal ausgesucht, das einst von einer 16 Kilometer langen, späterhin abgeschnürten Neckarschleife gebildet wurde. Im Jahr 1907 fand man bei Mauer, in den eiszeitlichen Ablagerungen der ehemaligen Flussschlinge, den heute weltberühmten Unterkiefer des Homo heidelbergensis, einer evolutionären Übergangsform zum Homo sapiens. Auch dieser Frühmensch war ein Wanderer! Aber vor 600.000 Jahren war seine nomadische Lebensweise Standard, die Sesshaftigkeit noch fern, Ackerbau noch undenkbare Innovation ferner Zukunft. Die neolithische Besiedlung Süddeutschlands begann etwa 5000 v. Chr., viel später folgten Kelten, Germanen und das römische Intermezzo. Mit der alemannischen und fränkischen Landnahme vom dritten bis zum zehnten nachchristlichen Jahrhundert setzte ein, was wir heute als Siedlungsgeschichte erforschen.

Eine Geschichte mit geologisch bedingten Gegensätzen, auch in unserer Region: Kraichgau und Odenwald – zwei Naturräume, der eine geprägt von Muschelkalk und fruchtbarem Löss, der andere vom silikatsauren Buntsandstein, folglich „Altsiedelland“ im Süden, „Jungsiedelland“ nördlich der Gesteinsgrenze. Das Odenwälder Neckartal hat Sonderstatus, denn auch hier ermöglichten Löss und Auenlehme frühe Besiedlung. Binau zum Beispiel ist im 8. Jahrhundert erstdokumentiert, die Geschichte Mosbachs beginnt im 9. Jahrhundert als Siedlung um ein Kloster. Dagegen wurde die Waldwildnis des Hohen Odenwaldes erst einige Jahrhunderte später für landesherrschaftliche Kolonisierungsbestrebungen interessant.

Mit Blick auf den exponierten Dilsberg führt mein Weg zur Neckarsteinacher Burgengruppe; ich mache Rast an der sandsteinroten Burgruine Schadeck. Abenteuerlich ist nicht nur die Positionierung des Schwalbennests an einem der extremen Steilhänge des Neckartals; spannend ist auch die brandaktuelle Forschungslage: Schadeck sei gar nicht, wie bislang stets angenommen, Gründung der Landschaden von Steinach, vielmehr entstand sie 1335 als Gegenburg des Erzstiftes Mainz, um – nomen est omen – insbesondere der Steinacher Vorderburg zu „schaden“, also einen strategischen Gegenpol zu setzen. „Kalter Krieg“ im Neckartal! Romantik stellte sich an der Burgenstraße erst weitaus später ein, in einer Epoche, als es längst keine Ritter mehr gab.












Dynamisches Flusstal
Selbst der Neckar „wandert“! Im Lauf der Jahrmillionen hat er mehrfach seinen Lauf verändert. Davon zeugen die Umlaufberge: übriggebliebene Kuppen, einst von Flussmäandern umflossen, die später abgeschnürt wurden und trocken fielen. Eberbach, „Stadt der Umlaufberge“ mit Altstadtambiente, hat gleich mehrere dieser flussgeschichtlichen Relikte aufzuweisen. Die markantesten sind der junge Ohrsberg und der ältere Schollerbuckel.

Beim Anstieg zur Kulturlandschaft Breitenstein überschaue ich auch den auffallenden Eberbacher Flussknick, eine weitere Spur bewegter Geologie: Als sich die Bruchschollen des Rheingrabens abzusenken begannen, nahmen Flusssysteme ihren Lauf auf, die in westlicher Richtung dem neu entstehenden Gefälle am Gebirgsrand folgten. Vor 30 Millionen Jahren dürfte sich ein kleiner Neckarlauf im Raum Heidelberg gebildet haben, dessen Quellgebiete in dem sich empor wölbenden Odenwald lagen. Da der Absenkungsprozess des Rheingrabens anhielt, musste sich der junge Fluss tief in die Gesteinschichten des Mittelgebirges einsägen und konnte sein Quellgebiet durch rückschreitende Erosion immer weiter nach Osten verlagern. Als er seinen Lauf bis in den Raum, wo heute Eberbach liegt, verlängert hatte, erreichte er ein weitaus älteres Flusssystem, das zur Donau entwässerte. Durch die größere Erosionskraft konnte der junge Neckar dieses südwärts orientierte Gewässer anzapfen und eine großräumige Flussumkehr setzte ein.

Manches spricht dafür, dass die Itter einst der Oberlauf dieses alten, südlich abfließenden Systems war. Der Eberbacher Neckar-Knick repräsentiert die erste große Flussanzapfung und ist ein wesentliches Vermächtnis der südwestdeutschen Flussentwicklung. Das Tal, welches der Neckar in Jahrmillionen schuf, können wir heute in wenigen Tagen durchwandern; der Neckar und ich – wir haben definitiv ein unterschiedliches Zeitmaß!












Die Kunst des Fließens
Burg Zwingenberg und die Wolfschlucht sind weitere Stationen auf meiner kurzweiligen Wanderung. Bei Neckargerach mache ich einen Abstecher in die Margaretenschlucht – auch sie ein Zeugnis der Flussgeschichte – und wechsle dann mit Blick auf die Minneburg das Ufer, um den Mittelberg zu umrunden, einen weiteren Umlaufberg. Unnötige Wege sind jetzt unmöglich; wer sich auf eine Mehrtageswanderung einlässt, erlernt Schritt für Schritt die Lebenskunst des Sich-Zeit-Nehmens. Wandern ist Entschleunigung, Entdeckung der Langsamkeit, Fließen wie der Fluss.

Ich nutze die Guttenbacher Staustufe, um den Neckar erneut zu queren. Einst war der keltisch benannte „nikar“ ein wildes Wasser; heute ist er stauregulierte Bundeswasserstraße, gezähmt und entschleunigt von 27 Stufen zwischen Mannheim und Plochingen, die ganzjährige Schiffbarkeit gewährleisten. Das im 20. Jahrhundert umgesetzte Projekt „Verkehrsachse Neckar“ erforderte Abstriche in der Ökologie: Die für ein intaktes Fließgewässer so wichtige Durchgängigkeit für Fische und Kleinlebewesen wurde deutlich eingeschränkt. Heute schaffen Renaturierungsmaßnahmen einen gewissen Ausgleich. – Weiter flussaufwärts, an den vom Neckar angeschnittenen Hängen von Schreckberg und Hamberg, ist der Übergang vom Buntsandstein zum Muschelkalk dokumentiert. Ich verweile auf dem Bismarckturm mit Ausblick über den lössbedeckten Mündungstrichter der Elz. Dann führt mich mein Weg in die Fachwerkstadt Mosbach, wo ich einen weiteren Wandertag kulinarisch besiegle, um mich für die letzte Etappe zu stärken.

Am Morgen steige ich in südöstlicher Richtung über die Bergkuppe und komme durch einen sonnenwarmen Weinhang bis zur kalkgrauen Burg Hornberg. Die flachwelligen Muschelkalkhügel geben dem Neckartal hier eine gänzlich andere Erscheinung wie im Odenwald, wo der Fluss von den wuchtigen Steilhängen des Buntsandsteins flankiert wird. Die Grenze des Naturparks Neckartal-Odenwald hinter mir lassend, wandere ich noch bis zum Barockschloss Horneck, eng verbunden mit der Gundelsheimer Altstadt, quere den Neckar und erreiche bald Wimpfen, die alte Kaiserpfalz.


Man geht dem Geheimnis einer Landschaft erst dann auf den Grund, wenn man in ihr geht, wenn man sich auf ihre sonnigen Felsen setzt oder dem Wasser beim Fließen zusieht. Wandern im Neckartal macht das Eigenleben eines großartigen Natur- und Kulturraums fühlbar. Irgendwo zwischen Gehgenuss und Geographie erweitert sich, leise und leichtfüßig, die Wahrnehmung der äußeren wie auch der inneren Landschaft – ein fließender Vorgang der Erkenntnis! Und mit diesem Gedanken bin ich am Ziel meiner Wanderung angekommen.


Publikation für den Naturpark Neckartal-Odenwald - Literaturangabe wie folgt:
HAHL, M. (2009): Landschaftsporträt Neckartal. Wanderbare Annäherungen zwischen Gehgenuss und Geographie. In: Der Naturpark bewegt. Jahresprogramm 2009. Eberbach. S. 4-9.


Copyrights auf Text und Fotos: Michael Hahl
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