08.01.2009

Wandern ist Lebenskunst

Von Michael Hahl


Motive, Moden, Marken
Wandern boomt in Deutschland. Das verraten nicht nur die Verkaufserfolge der Wanderbuchbestseller von Hape Kerkeling oder Manuel Andrack, das wissen vor allem die Umfragen: Rund 40 Millionen Deutsche gehen gerne auf Wandertour! Die Freizeitwünsche des Wanderpublikums sind nicht zuletzt ein starker tourismuswirtschaftlicher Faktor für die Region. Um zu verstehen, was Wanderer wollen, werden Marktanalysen durchgeführt, etwa die Umfragen des Natursoziologen Dr. Rainer Brämer. „Mit jeder Studie“, so Brämer, „erweitert sich das Knowhow für die umfassende Gestaltung marktgerechter Produkte.“ Qualität muss sich anhand bestimmter Kriterien messen lassen, nur dann kann man sie im Wandertourismus praktisch umsetzen. Das ist nicht immer einfach, denn so facettenreich wie die Lebensstile der Wanderer sind ihre Motive: Landschaft und Natur genießen wollen alle, wichtig sind zudem Gesundheit, Stressentlastung und nicht zuletzt die Gaumenfreude bei der Einkehr. Doch je nach Alter, Bildung oder Geschlecht gibt es abweichende Schwerpunkte.

Auch die Wanderinfrastruktur ist ins Blickfeld der Touristiker gerückt. Seit den 90er Jahren wird ein Diskurs über die veränderten Ansprüche des „neuen Wanderers“ geführt: Moderne Wanderwelten sollen nach landschaftspsychologischen Kriterien entwickelt, die Naturerlebnisse optimiert werden. Jede Menge neuer Wanderwege sind entstanden, Hunderttausende von Streckenkilometern durchziehen die deutschen Destinationen; längst nicht alle entsprechen den empfohlenen Qualitätsstandards. Um die Spreu vom Weizen zu trennen, werden Zertifikate eingeführt: Gütezeichen dienen dazu, dem Wanderer Orientierung im Wegedschungel zu bieten. Marken wie die von Brämer entwickelten „Premiumwege“ oder die „Qualitätswege Wanderbares Deutschland“ des Deutschen Wanderverbandes wollen helfen, höchste Erlebnisqualität zu sichern.

















Landschaft und Lebenskunst
Moderner Wandergenuss jetzt also mit Garantie? Ulrich Grober – populär durch sein Buch über „neue Wege zu einer alten Kunst“ – will einem allzu „etikettierten Wanderboom“ das Wesentliche des Wanderns entgegensetzen. „Es kommt nicht nur auf die Zertifizierung eines Weges an“, so äußert er sich im Wandermagazin, „sondern darauf, ob ich die ökologischen und kulturellen Schätze am Weg wahrnehmen kann, dass ich dafür empfänglich bin.“ Für ihn spielen „Marken“ keine Rolle: Wandern sieht er als individuellen Gegenentwurf zur technisierten Alltagswelt. Schritt für Schritt findet der Wanderer wieder zu sich selbst und zu einem entschleunigten Lebensrhythmus mit menschlichem Maß. Reale Erlebnisse in „begehbaren Räumen“ schaffen Kontraste zu den „besehbaren“ virtuellen Wirklichkeiten, geben neue Balance, neue Perspektiven. Und vielleicht, so Grobers Credo, entstehen aus der Kontrasterfahrung des Wanderers neue Leitbilder für eine ressourcenschonendere Lebensweise.

Ist die äußere Landschaft, die der Wanderer durchläuft, somit ein Gleichnis für die innere? Ist Wandern ein persönlicher Weg zwischen Naturerlebnis und Selbsterfahrung? Die bodenständigen Analysen Brämers scheinen den Trend zu bestätigen: Immerhin ist die Vorliebe für individuelle Wandertouren in den letzten Jahren erstaunlich gestiegen, im Jahr 2005 bekennen sich 46 Prozent der Befragten als Wanderindividualisten. Brämer möchte den „berechtigten Bedürfnissen zivilisationsgeschädigter Zeitgenossen“ gerecht werden. – Unter den gesellschaftlichen und ökologischen Vorzeichen des 21. Jahrhunderts wird Wanderlust zur Lebenskunst.

Auszug aus HAHL, M. (2008): Wandern ist Lebenskunst. Frischer Wind im Wanderparadies Naturpark Neckartal-Odenwald. In: Der Naturpark bewegt. Jahresprogramm 2008.
Eberbach. S.4-9.


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